Wer tagsüber in der Marketingwelt lebt, trifft immer wieder auf erstaunliche Wortkreationen. Chief Marketing Officer großer oder kleiner Unternehmen prägen diese selten – ihnen fehlt meistens die Zeit, neue Bewegungen zu starten. Beratungsunternehmen oder Agenturen hingegen greifen regelmäßig Begriffe auf, die mehr Geschäft versprechen, und füllen sie mit eigenen Vorstellungen. Einer von ihnen, zurzeit auf der Beliebtheitsskala ganz oben, heißt „Customer Obsession“.
Eine deutsche Übersetzung verwenden die Experten nicht. Durchaus verständlich – niemand gibt gerne zu, er empfehle die Pflege krankhafter Zwangshandlungen. Die Assoziationen, die das Wort „Besessenheit“ auslöst, dürften an vielen Stellen dann auch eher negativer Natur sein. Mein Gehirn kramt ein totes Zwergkanninchen, bluttriefende Arme und die irrsinnigen Augen von Alex, alias Glenn Close, hervor. Woran denken Sie?
Customer Obsession bedeutet im Großen und Ganzen: alles dreht sich um den Kunden. Doch wer steuert das Karussell? Und was ist aus „Customer Centricity“ (unschöne, aber korrekte Übersetzung: Kunden-Zentrierung) geworden? Tut es der gute alte Begriff „Kundenorientierung“ etwa nicht mehr? Anne M. Schüller meint: nein. „Denn jeder Anbieter ist auf das Wohlwollen seiner Kunden angewiesen wie niemals zuvor.“
Klingt seltsam. Finden Sie nicht? Wann gab es in unserer kapitalistischen Ordnung je eine Zeit, in der ein Unternehmen nicht von seinen Kunden abhängig war? Was soll also diese Begriffswischerei? Oh, Marketing. Innerhalb einer Disziplin, in der nur ganz wenige Begriffe einheitlich definiert sind, interpretiert jeder für sich und schreibt auf seine Fahne, was er will – immer dem Zeitgeist und seinen Interessen folgend.
IBM hatte schon 2007 ein Customer Obsession Program (COP). Es beschäftigte sich damit, Kundenerlebnisse von Weltklasse zu schaffen, kontinuierlich nur die besten Services sowie leidenschaftliches Engagement anbieten zu können. Das Ziel war, dem Kunden klar zu kommunizieren, eine bestimmte Person bei IBM kümmere sich darum, dass seine Geschäfte gut laufen.
Heute gibt es bei Uber ein Customer Obsession Team. Es sorgt übrigens dafür, dass jedes Kundenerlebnis Weltklasse ist. Der Aufgabenfokus liegt darauf, den Kundenservice schneller und effizienter zu gestalten – mit Hilfe von Selfservice-Prozessen und Technologien. Modelle und Algorithmen sollen Kunden hilfreiche Antworten liefern. Im besten Fall schaffen sie es, dass der Kundenservice erst gar nicht belästigt werden muss.
Bei Amazon ist das Thema Customer Obsession nicht nur viel umfassender, sondern auch ganz oben in der Unternehmenshierarchie angesiedelt. Es gehört zu den Prinzipien der Führungsmannschaft. Jeder Denkprozess des Managements beginnt mit dem Kunden, damit dieser dem Unternehmen als Dank dauerhaft sein Vertrauen schenkt. Obwohl die Manager durchaus einen Blick auf die Konkurrenz werfen – vom Kunden sind sie geradezu besessen.
Hat der Kunde also doch an Bedeutung gewonnen? Vielleicht. Vor allem aber weiß er dank des Internets viel mehr, stiftet Unruhe, wenn etwas schiefläuft, und pfuscht plötzlich in Bereiche hinein, die ihm in Zeiten der Industrialisierung nicht zugänglich waren. Die Konzentration auf gute Produkte reicht nicht mehr aus. Von denen gibt es unheimlich viele und der Kunde kauft sie von Herstellern auf der ganzen Welt. Daher müssen sich Unternehmen ändern. Am besten vom Grunde auf und nicht nur in irgendeiner altmodisch denkenden Marketingabteilung. Die ist als Konstrukt sowieso obsolet.
Echter Wandel, der den gesamten Prozessablauf auf den Kopf oder das Geschäftsmodell in Frage stellt, bringt aber Herausforderungen mit sich. Wohl deshalb folgen den mächtigen Worten selten spürbare Taten. Für alle Willigen hat Forrester Research schon mal eine Blaupause vorbereitet.
In der Natur der Besessenheit liegt es, dass man nur von einem Thema beherrscht wird, und dabei den Rest der Welt nicht mehr wahrnimmt. Also Vorsicht vor falschen Versprechen kreativer Wortartisten und einseitigen Entwicklungen. Sonst wird das Ganze zu einer verhängnisvollen Affäre.
2 Gedanken zu „Eine tief greifende Beziehung“