Es ist 14:34 Uhr, Donnerstag. Sie wählen sich mit Ihrem Handy in eine Telefonkonferenz ein, bei der einmal wieder über den Sinn des Lebens philosophiert und Bullshit-Bingo gespielt wird. Nach einer überschwänglichen Begrüßung stellen Sie auf stumm und laufen durch die leeren Gänge eines Supermarkts. Vorbei an summenden Kühlregalen, in deren Nähe sich Eisbären wohlfühlen könnten, dreiunddreißig Sorten Reis, Sonderbereichen für Vegetarier, Veganer, Bio-Jünger, Lactose-Intollerante und Jedermannsessen-Allergiker.
Eine ältere Dame (rote Strickmütze mit Bommel, Lachfalten wie sie nur ein gefährliches Leben voller Weizen und Zucker kreiert) und eine Mutter, die versucht, ihren dreijährigen Sohn zur Räson zu bringen („Paul, wir diskutieren das ganz sicher nicht hier und jetzt; warte, das machen wir zu Hause – soviel Geduld musst du haben“) begegnen Ihnen, sonst keiner. Ausgerechnet das Kekse-Regal wird blockiert, von einer Palette auf der sich Salt-and-Vinegar-Chips stapeln. Eine Neonröhre flackert, aber Sie ignorieren dieses Omen, machen einen Umweg und schnappen sich eine Packung Double-Chocolate-Cookies.
Am Zeitschriftenregal ahnen Sie endlich, was das nervöse Zucken der Lampe bedeuten sollte: Sie sind nicht so alleine wie Sie dachten. Zehn Leute stehen an der Kasse. Sie werden es nicht schaffen, sich von den Teilnehmern der Telefonkonferenz fröhlich zu verabschieden, ohne zu verraten, was Sie an diesem Nachmittag getan haben. Aber keine Sorge: Abhilfe ist langfristig in Sicht. Obwohl Sie vielleicht nach China oder in die USA ziehen sollten, wenn Ihnen Kekse häufiger als einzige Rettung erscheinen.
Revolutionäre Tendenzen
Kassen, an denen Kunden selbst ihre Ware einscannen sind anderswo in Europa, etwa in der Londoner City, längst Standard, hierzulande allerdings nur vereinzelt zu finden. Dabei bilden diese menschenunabhängigen Geräte nur die erste Stufe einer Revolution. Angeführt wird sie vor allem von E-Commerce-Unternehmen, die sich in die reale Welt gewagt haben, um sie für immer zu verändern. Das Ziel: Supermärkte, in denen der Kunde seine Waren auswählt, und anschließend, ohne an irgendeiner Kasse anstehen zu müssen, hinausgelangt. Kommunikation mit Angestellten: passé. Zugegeben, letzteres erweist sich ohnehin häufig als schlechte Komödie. („Wie sich dieses Telefon von dem darunter unterscheidet? Na, Rot ist auf jeden Fall schöner als Blau.“) Aber werden wir sie nicht vermissen, diese kurzen, verwirrenden Begegnungen? Und was passiert mit der netten Dame an der Käsetheke, die uns immer am Gesundheitszustand ihres Wellensittichs Rudi teilhaben lässt?
Einer der Gründe für diese unaufhaltsame Entwicklung: Rationalisierung. Unternehmen wollen ihre Effizienz steigern; Automatisierung und Technisierung kommen ihnen zupass. Und was da alles aufgefahren wird: computerunterstütztes Sehen, Augmented Reality, Robotik, maschinelles Lernen, künstliche Intelligenz. Beim Einsatz all dieser Hilfsmittel entstehen Daten. Tonnen von ihnen. (Grund Nummer zwei, drei und vier für den Wandel: Daten, Daten, Daten). Es wundert also nicht, dass einer der erfolgreichsten Revolutionäre Amazon heißt – der wohl einfallsreichste Datenkrake der Welt. Sein Geschäft ohne Kassen trägt den lässigen Namen Amazon Go.
Der Kunde lädt zunächst die entsprechende App auf sein Mobiltelefon. Betritt er einen Amazon Go-Laden, wird die App gescannt, was den vorhandenen Kameras und Sensoren erlaubt, die Person zu identifizieren. Die verwendete Software erkennt automatisch, wenn jemand Produkte aus den Regalen nimmt oder sie wieder zurückstellt. Wer mit dem Einkaufen fertig ist, verlässt den Markt einfach. Zeitnah belastet Amazon das individuelle Konto. Der Kunde bekommt eine virtuelle Quittung.
Andere Länder, andere moralische Vorstellungen
Während Amazon beteuert, Gesichtserkennung käme nicht in Frage, gehen die Chinesen mit dieser Technologie nicht so zaghaft um. Der Supermarkt Suning, der inzwischen sowohl in Schanghai als auch Nanjing ohne Kassen agiert, verwendet sie ohne Zögern. Die Ostasiaten mit Faible für Fünfjahrespläne geben sich sowieso viel experimentierfreudiger als andere: so bastelten sie auch eine flexible Box, die als Laden funktioniert und sich mithilfe der allumfassenden Plattform WeChat bedienen lässt. (WeChat ist wie eine Mischung aus WhatsApp, Twitter, Facebook, Snapchat, mytaxi, PayPal und den Überwachungsalgorithmen der NSA, CIA sowie des FBI.) Lenovo, bestens für seine (einst von IBM verkauften) Laptops bekannt, betreibt ebenfalls ein Geschäft ohne Kassen. Wunschergebnis: eine wegweisende Datensammlung. Die Käufer von Jogurt und Limo dienen als Versuchskaninchen für die genutzten Technologien, beispielsweise Gesichtserkennung auf Tablets und Smartphones.
Und die vorsichtigen Deutschen? Sind nicht ganz untätig. Würth, der Spezialist für Montage und Befestigungsmaterialien aller Art, hat in Esslingen, Vöhringen und Waiblingen sogar eine Mischkategorie geschaffen: zu regulären Öffnungszeiten kauft man in einer herkömmlichen Filiale ein. Wer hingegen sonntags oder mitten in der Nacht zu der Erkenntnis kommt, er bräuchte eine neue Kettensäge, nutzt die elektronische Waren- und Auftragserfassung. Selbstredend aktiviert der Kunde diese mithilfe der Würth-App.
Vorfreude auf eine neue Neonröhre
Mit einem Buch von Amazon hat für viele die schleichende Veränderung der Gewohnheiten begonnen. In Zukunft könnte jedes Einkaufserlebnis ohne störende Belegschaft stattfinden. Sperrige Güter wie Fernseher bestellen wir online. Ein autonomes Fahrzeug, ausgestattet mit einem wendigen Hub-Roboter, bringt die Ware ins Haus. Sollte jemand auf dem Weg zu einer Verabredung spontan ein Deo brauchen, läuft er in ein Geschäft rein und – von mit Riechorganen ausgestatteten Wesen unbeachtet – schnell wieder raus.
Genießen Sie also die Gesellschaft der Frau an der Käsetheke und haben Nachsicht mit dem ahnungslosen Personal im Elektronikmarkt. Sie alle könnten schon morgen das Los von Dinosauriern, Pyramidenbauern und hilfreichen Fachverkäufern teilen. Aber wer weiß, möglicherweise leistet sich Ihr Supermarkt in Zukunft eine neue Neonröhre.