Eine Kuh steht auf einer Weide. Eine Kanne Milch schimmert im Sonnenlicht. Saftig grüne Grashalme wehen im Wind. Aus dem Off gießt jemand dynamisch Milch in ein Glas. Die Designer von Milchpackungen beschwören häufig dieselben Bilder herauf in unseren Köpfen. Das ist ihr Job – schließlich erfüllt eine Verpackung viele Funktionen, zu denen die Absatzförderung gehört. Und solch positive Assoziationen verkaufen bestens.
Der Verbraucher hinterfragt seine Wahrnehmung selten. Wieso sollte er? Die Welt da draußen ist komplex genug – auch vor dem Milch-Regal im Supermarkt. Es liegen nicht nur unzählige Marken nebeneinander. Man darf wählen zwischen Bio-Milch, Heu-Milch, Weide-Milch, der fairen Milch, einfach nur Milch – und keiner dieser Begriffe ist geschützt. Selbst wenn wir ahnen, was hinter den Worten stecken könnte, so sind wir uns nie sicher, ob die spezielle Milchpackung, zu der wir greifen, auch den erwünschten Inhalt enthält. Doch was tun? Es bleibt so wenig Zeit, sich um all die Missstände dieser Welt zu kümmern.
Spätestens seit ein Schreckgespenst das Oval Office belagert, müssten alle wissen: Deutschland ist Exportweltmeister. Warum also nicht im Bereich Molkereiprodukte ebenfalls nach einem Titel streben? Unser Land belegt weltweit den fünften Platz unter den Produzenten von Kuhmilch und exportiert davon 49 Prozent – vor allem Butter, Milchpulver und Kondensmilch gelangen in die Supermärkte der Italiener, Franzosen oder Schweden. Diesen Erfolg verdankt die Industrie ihrer tierischen Ressource, der Hochleistungskuh.
So wie die menschlichen Ressourcen als Markenbotschafter dienen, so stehen auch die Kühe stellvertretend für die Werte ihrer Marke. Stehen darf man hier allerdings auch wörtlich nehmen. Denn, je nach Statistik, verbringen 72 Prozent der Tiere ihr sehr kurzes Leben – nach nur maximal fünf Jahren haben sie als Ressource und Markenbotschafterin ausgedient – im Stall. Entweder in einem, in dem sie ein paar Meter hin und her laufen dürfen, oder einem, in dem sie angebunden werden. Auch eine Bio-Kuh kann übrigens Fesseln tragen, Ausnahmeregelungen und Begriffswischerei sei Dank. Schade, dass die Verbraucher diesen Vertretern der Milch-Marken kaum begegnen.
In der Milchindustrie dreht sich alles um die Produktionsmenge der tierischen Ressource. Die Entscheider optimieren ihren Einsatz unter anderem durch die Verwendung von Kraftfutter. Beschädigungen, die sich auf seine Verabreichung zurückführen lassen, nimmt der Produzent in Kauf. Es zählt das Endergebnis. So eine große Bedeutung hat die Menge, dass sie inzwischen als Wettbewerbsfaktor von anderen Ländern erkannt wurde. Kerrygold wirbt zum Beispiel damit, wie wenig Milch Irland im Vergleich zu anderen Ländern produziert. Die Inselbewohner trumpfen mit weiteren Vorteilen gegenüber ihrer deutschen Konkurrenz auf: der Golfstrom erlaubt es den Kühen, 300 Tage rund um die Uhr auf der Weide zu stehen. Hierzulande sind es, bei den wenigen Kühen, die in den Genuss dieser Investition in ihr Wohlbefinden kommen, 120 Tage, mindestens sechs Stunden lang.
Wie konnte es eigentlich so weit kommen, dass Menschen Tiere wie Gegenstände behandeln, die dafür zu sorgen haben, dass der Gewinn maximiert wird? Dass man darüber diskutiert, was „artgerecht“ oder „wesensgerecht“ sein soll und doch fast jede Kuh ein trauriges bis elendes Dasein fristet? Noch nicht einmal drei Prozent der Gesamtmenge an Milch kommt von Bio-Kühen. Also denen, die manchmal auf die Weide können und vielleicht gesundes Essen bekommen.
Kühe, die nicht im Dienste der Industrie stehen, werden übrigens bis zu 15 Jahre alt. Für sie Verantwortung zu übernehmen lohnt sich jedoch nur im Rahmen eines Hobbys. Denn der Return on Investment einer glücklichen Kuh, die lange lebt, fällt natürlich vergleichsweise miserabel aus.
Die Seelen heutzutage bekommen eine Hornhaut.
Das notierte Antoine de Saint-Exupéry innerhalb seiner zwischen 1936 und 1944 verfassten „Carnets“.
Wenn diese Aussage schon damals zutraf – wie dick muss diese Hornhaut heute sein?