Die Großfamilie verkommt zum Fremdwort. Der alleine lebende Mensch dominiert düstere Zukunftsvisionen. Wo führt das alles hin? Wird diese gesellschaftliche Entkopplung womöglich unser kollektives Gedächtnis auslöschen? Solche Fragen beherbergen reichlich Forschungsstoff für kommende Generationen.
Heute drängt sich in diesem Zusammenhang eine themenverwandte, nicht wissenschaftliche Beobachtung auf: Der Einzelne stellt sich selbst zunehmend in den Mittelpunkt. Das Individuum lechzt nach Beachtung, will aus der Masse ausbrechen und seine Einzigartigkeit nach außen tragen. Das ist natürlich auch der Wirtschaft nicht entgangen. Also stellen sich Unternehmen nach und nach und in unterschiedlichem Ausmaß auf den Wunsch des Individuums ein.
Dabei ist das Individuum für die Wirtschaft kein Unbekannter. Schon vor langer Zeit trugen Männer zu jeder Mahlzeit einen anderen Maßanzug und Frauen ließen sich zu jedem Kleid ein paar Schuhe anfertigen. Das Problem: Man könnte es das „Downton Abbey-Syndrom“ nennen. Nur Reiche waren echte Individuen. Die Dienerschaft lebte abseits individueller Exzesse. Doch dann setzten neuartige Maschinen Motoren und Menschen in Bewegung, was zu einer – auf die Weltgeschichte bezogen – kurzen Phase der Massenproduktion, in der alle gleich behandelt wurden, führte. Heute wehrt sich das Individuum gegen dieses Einerlei. Und wie Content Marketing kommt auch das Einzelwesen, und diesmal in allen Schichten der Gesellschaft, zu neuem Ruhm. Die rasante Entwicklung fortschrittlicher Technologien macht es möglich.
MyHammer, mymuesli, MyParfum, Myspace, allmyTea. Meins, meins, meins. Sehr mutig treten sie bei der Wahl des Markennamens nicht gerade auf, die Unternehmen, deren Geschäftsmodell die Erfüllung persönlicher Wünsche in den Vordergrund stellt. Es mag daran liegen, dass Wirtschaft und Individuum noch fremdeln. Die meisten Unternehmen produzieren weiterhin Massenartikel. Die lassen sich durchaus personalisieren. Zum Beispiel durch eine Gravur. Mit einem individuellen Produkt hat das Ganze nichts zu tun. Also machen viele große Unternehmen vorsichtig kleine Schritte. Sie verkaufen individualisierbare Massenprodukte. Im Englischen als „Mass Customization“ bekannt, bietet dieser Ansatz dem Kunden eine Art Baukastensystem. Aber da nur eine bestimmte Anzahl von Komponenten zur Verfügung steht, muss sich das Individuum einschränken.
Das soll nicht so bleiben. Deshalb findet in Dänemark diesen Februar die MCPC oder World Conference on Mass Customization, Personalization, and Co-Creation statt. Namhafte Unternehmen wie Opel oder LEGO beteiligen sich an dieser Konferenz und versuchen herauszufinden, wo die wachsende Macht des Individuums sie hinführen wird. Bis etwas Ernsthaftes passiert, kann das aufmüpfige Einzelwesen immerhin auf das Configurator Database Project zurückgreifen. Es stellt in einer Datenbank Informationen über Produkte zusammen, die Kunden nach ihren Wünschen konfigurieren können.
Letztendlich bleibt es aber vorerst dabei: Kunden kaufen heute viele Variationen eines einzigen Produktes ein. Unverwechselbare Einzigartigkeit ist eine Illusion. Das hat aus unternehmerischer Sicht durchaus berechtigte Gründe. Will ein Unternehmen von Massenproduktion auf individualisierbare Produkte oder gar Unikate umsteigen, muss es seine gesamte Wertschöpfungskette nach dieser Strategie ausrichten. Und je größer das Unternehmen, desto komplexer die Prozesse. Also gilt es vor allem für Konzerne, Chancen gegen Risiken abzuwägen: Reichen die höheren Preise, die Kunden bereit sind zu zahlen, und die entstehenden Wettbewerbsvorteile aus, um das Unternehmen profitabel an sein Ziel zu führen? Kleinere Unternehmen hingegen haben die Möglichkeit, sich eine Nische zu suchen. Und das nächste My-Irgendwas zu schaffen.
Der Kunde wird geduldig warten. Noch funktioniert ja unser kollektives Gedächtnis. Noch lächeln wir, wenn wir ein Playmobil-Piratenschiff im Regal sehen. Noch vermögen Coca-Cola Flaschen mit dem eigenem Namen zu begeistern. Doch wenn der 3-D Drucker erst ausgereift ist, dann gibt es kein Halten mehr. Andererseits zeigen Forschungsergebnisse ja, dass so viele Menschen sich mit zu großer Auswahl schwer tun. Was erst, wenn sie sich jeden Morgen ihr eigenes Brot drucken müssen? Vielleicht werden dann neue Geschäftsmodelle auftauchen. Vielleicht werden die Strickmuster von gestern zum Brotmuster von morgen. Jede neue Epoche steckt schließlich voller Möglichkeiten.