Wildes Treiben auf der Buchmesse

Fremde Welten

Jeder, der schon mal den Auftritt eines Unternehmens auf einer Messe organisiert hat, weiß: Der Weg zum Erfolg ist mit unangenehmen Stolpersteinen gepflastert. Stundenlange Diskussionen, plötzliche Schweißausbrüche und schmerzliche Blasen gehören einfach dazu. Die Tage vor Ort sind lang, die Atemzüge kurz. Die nervösen Zuckungen hören erst Wochen nach dem großen Ereignis auf. Messen sind eben kein Zuckerschlecken. Weder für Veranstalter noch für Besucher.

Letzte Woche war in Frankfurt Buchmesse. Zur Erinnerung: Eine Messe ist im Grunde genommen ein Ort, der Käufer und Verkäufer zusammenbringt. Im Falle der Buchmesse kommen jedes Jahr viele Unbeteiligte hinzu, die einen Hauch der glamourösen Luft inhalieren wollen. So sehen es zumindest die Hauptakteure. Denn in Wahrheit ist die Luft stickig und diese Unbeteiligten sind Menschen, die das vorgestellte Produkt kaufen, nutzen, empfehlen und verschenken. Wie dem auch sei. So eine Messe zeigt jedem Interessierten was eine Branche beschäftigt.

Als interessierte Person stürzte ich mich also vor ein paar Tagen in ein Abenteuer fernab des Alltags. Es begann enttäuschend harmlos. In der Bahn war noch nicht einmal ein Verrückter, der mich anschrie. Statt dessen begrüßte mich beim Aussteigen Boris Becker. Nicht persönlich, aber dafür gleich mehrmals. Sein Konterfei zierte jede freie Stelle vor dem Haupteingang. Als Laie fragte ich mich: Was hat der mit Literatur zu tun? Zu Hause schlug ich dann in meinem Lieblings-Lexikon nach. Das Brockhaus’ Konversations-Lexikon von 1894 definiert Literatur wie folgt:

„Literatur bezeichnet im weitesten Sinne die Gesamtheit aller schriftlichen Denkmale, in denen das Menschengeschlecht sein Wissen, Denken und Fühlen niedergelegt hat.“

Boris Becker ist also ganz offiziell ein Literat. Basta.

Die Werbesäulen von Sony in den Gängen gaben einen Vorgeschmack auf eines der – immer noch – heiß diskutierten Themen: E-Books. Beim Spaziergang durch die Hallen kam niemand an den anderen beiden Schlüsselbegriffen vorbei: Social Reading und Self Publishing. Jede Branche braucht heutzutage scheinbar einen von ihr selbst kreierten englischen Begriff, der für Buzzword Bingo taugt.

 

E-Books sind inzwischen jedem ein Begriff. Das ist Literatur für Pingelige – ohne Eselsohren, Krümel und Sand vom letzten Urlaub.

Social Reading ist nicht, wie Sie vielleicht annehmen, Lesen in Gesellschaft, wie man es von früher kennt. Weder liest ein Elternteil einem Kind vor noch widmet ein Kind seinem sehbehinderten Großvater Zeit. Hier geht es darum, in Einsamkeit gelesene Bücher in Chats, Foren oder Sozialen Netzwerken gemeinsam mit anderen zu sezieren. Goodreads ist so ein soziales Netzwerk. Es wurde im Frühjahr von Amazon übernommen. Das Unternehmen kann jetzt praktischerweise jeden Beitrag mit dem entsprechenden Produkt im eigenen Online-Bauchladen verlinken.

Self Publishing gab es auch schon mal, aber die Technik macht den Prozess wesentlich einfacher, schneller und günstiger. Self Publishing heißt schlicht: Der Autor kümmert sich um alles selbst. Bei diesem Geschäftsmodell überspringt man einen wesentlichen Teil der Lieferkette, den Verleger.

 

Falls Sie sich schon immer fragten, wozu ein Verleger überhaupt gut ist: seine Hauptaufgabe besteht darin, Talente zu suchen und ihr Werk an ein möglichst großes Publikum zu verkaufen. Sagt zumindest Markus Dohle, der CEO von Penguin Random House, einem der größten Verlage der Welt. Wenn Sie etwas über Übernahmen an sich und die Buchbranche im Allgemeinen hören möchten, schauen Sie sich doch seinen Auftritt beim CEO Panel an. Er ist sehr amüsant und lehrreich. Aber zurück zum Messebesuch. Die Atmosphäre vor Ort war recht nüchtern. Nichts erinnerte an den verwinkelten, gemütlichen Buchladen, der als Vertriebsweg für Verträumte wieder im Kommen sein soll. Die meisten Messestände kamen langweilig daher. Quadratisch, praktisch und nicht gut. Selbst die Sitzmöglichkeiten enttäuschten. Ungemütliche Klötze am Rande, an den Tischen in den Gastronomie-Ecken herrschte unentwegt Platzmangel. Keine Zeit zum Verweilen, Ausatmen oder Reflektieren. Die Buchbranche ist eben im Umbruch und nicht zum Spaß vor Ort. Zumindest nicht tagsüber.

Das Gastland Brasilien präsentierte sich im grellen Licht. Hängematten, Fahrräder, Strandansichten auf der Leinwand. Nett. Aber nicht so überraschend wie der Auftritt von Island vor zwei Jahren. Diese Stille. Ein krasser Gegensatz zum Trubel in den Messehallen – und zum Alltag vieler Menschen in Westeuropa. Beide Pavillons hatten allerdings etwas gemeinsam: Sie entführten den Besucher in eine fremde Welt. Und taten damit genau das, was auch ein Buch zu tun vermag. Egal, ob der Leser sich mit Hilfe von Shakespeares „Romeo und Julia“ ins sechzehnte Jahrhundert begibt, um festzustellen, dass manches sich nie ändert oder die Eigenschaften von Psychopathen im gleichnamigen Buch von Kevin Dutton ergründet. Jedes Buch ist eine Chance, etwas Neues zu entdecken.

Die Damen und Herren aus der Buchbranche entdecken wiederum gerade, dass der Leser, dieses wundersame Wesen am Ende der Lieferkette, unaufhaltsam die Aufmerksamkeit auf sich zieht. In Zukunft wird er die Buchbranche mitgestalten. Und wer weiß, vielleicht auch die Buchmesse selbst. Schließlich reißt der Endverbraucher gerade in jeder Branche eine Hauptrolle an sich. Und so ist der verstärkte direkte Kontakt mit dem Endkonsumenten auch ein übergreifendes Ziel eines jeden Geschäftetreibenden. Schade, dass diese Nachricht bei den Damen und Herren, die einen ständig schubsten und aktiv ignorierten noch nicht angekommen ist.

Ich weiß auch nicht warum. Aber zum Schluss fällt mir noch ein Zitat ein.

„Die geistigen Kräfte dieses Menschen – sein Zähler – waren groß, aber seine Meinung von sich – sein Nenner – war ganz unverhältnismäßig größer und überwog bei Weitem seine geistige Kraft.“

L. Tolstoj, Auferstehung

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